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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 27.1.1980
Einen keimenden Platz im Herzen finden
Gerhard Kaufmann überraschte wieder mit einer Uraufführung

Nagold. Mit einem kurzen Rückblick in eine vergangene Zeit sollen beileibe keine schlafenden Hunde geweckt werden, zumal heute in theologischen Fragen von einer größeren konfessionellen Toleranz ausgegangen werden darf, als noch vor 26 Jahren: Als Hans Grischkat im November 1954 in der Stuttgarter Markuskirche Monteverdis Marienvesper aufführte, folgte postwendend ein Erlaß des Oberkirchenrates: "... ein evang. Kirchenraum ist nicht der Ort, um Lieder zu singen, in denen durch das 'Marienlob' die alleinige Mittlerschaft Christi verdunkelt und die Ehre Gottes verletzt wird ... ". An jenen monatelang dauernden heiligen Streit mußte sich der Rezensent erinnern, angesichts des erstaunlichen Geschehnisses am letzten Sonntag in der ev. Stadtkirche, wo ein ganzes Konzert dem Lob Mariens galt.
Man frägt sich natürlich, was einen protestantischen Kantor bewegt, gleich einen Zyklus von 13 Marienliedern zu komponieren und in der Kirche aufzuführen, für den er auch noch die Textvorlagen selbst erfand. Sie sind zwar außerhalb theologischer Grundsätze angesiedelt und lassen eher auf eine individuelle Beziehung zu diesem Namen schließen. Dennoch ist zweifellos ein religiöses Bekenntnis Absicht, auch wenn Gerhard Kaufmann zuweilen in dadaistische und surrealistische Phasen gerät; "Knospen örcheln Blattwendeln kringelzierlich ins Vergißmeinnicht so leis dies Blütenwächern schilbert ..." oder "Odemwerden - Metapher Gottes, Reinkarnation in staunendes Weißnicht...".
Vom Kompositorischen her wirds - ohne Vorlage - schwieriger. Der Singstimme (hoher Sopran) werden häufig große Intervallsprünge zugemutet, die aber mit einem Gespür für eine melodische Entwicklung konzipiert sind. Dazwischen gibt es (Nr. 4 und 13) reine Sprechtexte, rezitative Figuren und, was wohl vom Hörer am dankbarsten aufgenommen wird, zwei Strophenlieder (Nr. 5 und 10).
Gerhard Kaufmann schaltet - durchaus dem poetischen Inhalt analog - auch einen kleinen Kinderchor ein, der zweimal (Nr. 3 und 8 a!) mit dem Sopran in, teils geflüsterten, rhythmisierten Silbenfetzen korrespondiert und in Nr. 11 "Ich weiß. Laß meine Melodie in losem Gedankenspiel hin - lache mich aus..." sogar im Unisono-Solo fungiert.
Es ist sicher nicht nur der leise Töne aufsaugende starke Nachhall der Kirche, welcher den Klavierpart häufig blaß erscheinen läßt. Kaufmann koppelt zuviele Parallelen mit der Sopranstimme und versäumt dadurch die unerläßliche Gegenbewegung. Er verwendet eine Art Reihenmotivik mit der Neigung zu punktuellen Farbtupfern, läßt dann aber wieder aufhorchen, sobald dem Klavier eine (notwendige) Dominanz zugeordnet wird wie im 7. Lied "Ich muß mit den Augen die Sonne hassen, damit ich sie fasse, damit ich sie grenze, damit ich sie seh...".
Akkordbildungen verdichten zuweilen eine Atmosphäre, die unmittelbar an Reger oder Richard Strauss, andererseits an Bartoksche Reduzierungen auf ein Minimum anklingen. Zwei Lieder, das schon zitierte siebte und das auf einen Text von Else Lasker-Schüler geschriebene "Oh Gott, ich bin voll Traurigkeit..." (Nr. 10) erwecken den kompositorisch stärksten Eindruck. Aber gewiß nicht der Texte wegen, denn diese verstand man - leider - nicht.
Susann Finckh-Bucher verfügt zwar über eine glasklare, mehr intonationssichere Stimme, artikuliert aber die Texte zu nachlässig, um sich auch nur andeutungsmäßig in sie einstimmen zu können, selbst die ins Mikrophon gesprochenen waren unverständlich. So muß von der Schilderung des Aufgenommenen her noch einiges offen bleiben bis zu einer erneuten Aufführung unter günstigeren Voraussetzungen.
Eingebettet war dieser zweiteilig uraufgeführte Zyklus in ein sechsstimmiges "Ave Maria" und das doppelchörige "Stabat mater dolorosa" von Palestrina sowie das "Magnificat" für Soli, Chor und Orgel von Claudio Monteverdi.
Noch vor wenigen Jahren wäre diese Magnificat-Aufführung durch den Nagolder Chor kaum denkbar gewesen. Kaufmanns konsequente Arbeit hat sich nicht nur in der Steigerung der musikalischen Leistung, sondern vor allem in einer sich stetig - und oft mühsam - verändernden gedanklichen Einstellung des Chores ausgezahlt. Immerhin hatte der Chor sieben der elf Teile mit oder allein zu gestalten, wobei besonders auf die beiden Einlagen der Frauenstimmen hingewiesen sei.
Neben Susann Finckh-Bucher stand für die Koloratursoli noch Lynette Kutschewsky mit einem fülligeren Timbre zur Verfügung, wodurch das Echo-Duett (zur Orgelempore) sehr reizvoll gelang. Hervorragend ergänzten sich auch die beiden noch relativ jungen Tenöre Herbert Klein und Berthold Schmid, die wesentlich an dieser beeindruckenden Aufführung ihren Anteil hatten. Gerhard Kaufmann gestaltete dieses Werk in klar proportionierten Abschnitten.
Seine meist breit angelegten Tempi entsprachen bei diesem wie bei den beiden Palestrina-Werken den akustischen Bedingungen. Trotzdem hätte man sich beim "Ave Maria" innerhalb der einzelnen Phasen agogische und dynamische Differenzierungen gewünscht. Und sicher wären die Choristen dann für eine präzisere metrische Gestik empfänglich, wenn sie lange Notenwerte auszuhalten haben wie in dem ungemein kraftvoll und mit großem Atem interpretierten "Stabat mater". Ein Kompliment für diese großartige chorische Leistung.
Rudolf Schmid hatte neben Orgelbegleitungen noch Frescobaldi auf seinem "Füller"-Programrn; einmal fünf Ricercare (deren Variierung durchaus Registerabstufungen ertragen hätten), zum andern ein Capriccio di Durezza. Es ist aber kaum anzunehmen, daß damit die deutsche Übersetzung "Schwerfälligkeit" gemeint ist, die ja dem Charakter des Capriccio völlig widersprechen würde, sondern wohl eher der Name eines Musikerkollegen.
Wie dem auch sei: Die unerwartet vielen Zuhörer in der unterkühlten Kirche brauchten sich über einen Mangel an Abwechslung gewiß nicht zu beklagen. Wahrscheinlich wird mancher noch - vielleicht sogar etwas ratlos - im nachhinein einen Gesprächspartner brauchen, um Meinungen und Eindrücke auszutauschen. Zumal der Autor des Marien-Zyklus darum bittet: "Ich bin überaus glücklich und bangen Herzens, daß meine Gedanken und meine Musik einen stillen und keimenden Platz in Ihrem Herzen finden mögen." Gerhard Kaufmann - ich sagte es schon früher einmal - ist immer für eine Überraschung sicher.


Kritik von W. Range zum Konzert am 27.1.1980
Uralte Thematik aktualisiert
Geistliches Konzert in der Stadtkirche - Kantorei genügt höchsten Ansprüchen

Nagold. Am letzten Sonntagabend gaben die Nagolder Kantorei, der Nagolder Kinderchor, ferner Instrumental- und Gesangssolisten unter der Leitung von Gerhard Kaufmann in der evangelischen Stadtkirche Nagold ein geistliches Konzert, dessen Programm die drei ins kirchliche Bewußtsein aufgenommenen Stationen Marias (Verkündigung des Engels, Lobgesang der Maria Magnificat, Maria unter dem Kreuz) beinhaltete. Das musikalische Triptychon basierte auf Werken für Orgel, Soli und Chor von Frescobaldi, Palestrina und Monteverdi, wobei in den "13 Gesängen" von Gerhard Kaufmann diese tradierte Thematik ins Individuell-Subjektive, in die Ängste und Nöte des heutigen Menschen transponiert und somit diese uralte Thematik aktualisiert wurde.
Es ist immer wieder erstaunlich, welche Leistungen die Nagolder Kantorei trotz relativ knapper Probenzeiten erbringt. Sprachliche Transparenz, Tongebung, subtiles Reagieren auch auf die feinsten Intentionen des Dirigenten rücken diesen Chor in die Reihe derjenigen Laienchöre, die höchsten Ansprüchen genügen.
Mit dem sechsstimmigen, übrigens im Schaffen Palestrinas bezüglich der Bearbeitung eine Sonderstellung einnehmenden "Ave Maria" gab der Chor in ruhig ausschwingenden Linien die Einstimmung ins Meditative des Abends, und erreichte im ebenfalls sechsstimmigen "Magnificat" von Monteverdi einen ersten Höhepunkt; Susann Finckh-Bucher und Lynette Kutschewski (Sopran), Herbert Klein und Berthold Schmid (Tenor) beeindruckten hier durch souveräne Gestaltung der Solopartien, ohne solistisch vorzudringen, was dem Geist dieses frühbarocken klangschönen Werks angemessen war. Die dritte Station, "Die Mutter unter dem Kreuz", entfaltete der Chor mit Palestrinas "Stabat mater für 2 Chöre" überzeugend in geradezu symphonischen Ausmaßen.
Der aktuelle Bezug der zeitlosen Thematik menschlichen Erduldens erklang in den "13 Gesängen" für Sopran, Kinderchor und Klavier (1980) von Gerhard Kaufmann. Den irdischen Existenzbezug und die metaphysische Rückgebundenheit des Menschen (religio) versucht Kaufmann zunächst in sehr feinen filigranen, aber auch sehr expressiven Textgebilden zu verdeutlichen, wobei er als Grundmetapher die Mariengestalt wählt. Aus dem lyrischen Ton des Textes erwächst unmittelbar die musikalische Komposition.
Susann Finckh-Bucher vermochte mit ihrer einfühlsamen, sehr intonationssicheren und wunderbar klangreinen Stimme die Absichten des Komponisten eindrucksvoll zu realisieren. Die trotz ihrer thematischen Kompliziertheit auch für das ungeübte Ohr erfaßbaren gesanglichen Linien, die als Weiterentwicklung Mahlerscher und Straußscher Thematik zu werten sind, können als echte Alternative zu den sattsam bekannten "intellektuell-musikalischen" Einfallslosigkeiten der Gegenwart angesprochen werden. Der vom Komponisten gespielte Klavierpart wies unter anderem eine schöne arabeske Kontrapunktik auf.
Mit Begeisterung meisterte der Kinderchor seine manchmal sehr schwierige Partie. Rudolf Schmid spielte zwei Werke von Frescobaldi und übernahm den Orgelpart des Magnificats von Monteverdi. Sowohl mit der Orgelbegleitung als auch mit den Soli von Frescobaldi zeigte er wieder einmal sein meisterliches Können. Ein Abend, der mit Bedacht vorbereitet worden
war.

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